„Gesund durch die derzeitige Pandemie-Krise“, wie kann das gehen? Die Unternehmenskommunikation im UNIONHILFSWERK Berlin bat mich um eine Einschätzung. Was oder wer ist hilfreich, auf welches Experten*innenwissen kann ich mich jenseits meiner persönlichen und psychotherapeutischen Erfahrungen berufen?
Resilienz – was bedeutet das?
Zunächst fiel mir die Resilienzforschung ein, die ich bemühe, wenn man mich nach Verhaltensweisen fragt, die sich professionell und wissenschaftlich als wirkungsvoll erwiesen haben. Resilienzforschung befasst sich mit dem Geheimnis der psychischen Widerstandskraft, die uns stark macht gegen Stress, Depression und Burn-out, mit der Kraft, die Menschen aus einer deprimierenden Situation wieder ins volle Leben zurückkehren lässt – gegen die Zumutungen der Umwelt und gezielt das verwertet, was konstruktiv ist. Was genau macht Einzelne von uns aus, die derartige Eigenschaften besitzen?
Dazu hat Christina Berndt, anlehnend an den Thesen von Martin Seligman, dem Begründer der Positiven Psychologie,
zehn Wege zur Resilienz aufgezeigt:1. Bauen Sie soziale Kontakte auf.
2. Sehen Sie Krisen nicht als unlösbare Probleme.
3. Akzeptieren Sie, dass Veränderungen zum Leben gehören.
4. Versuchen Sie, Ziele zu erreichen.
5. Handeln Sie entschlossen.
6. Finden Sie zu sich selbst.
7. Entwickeln Sie eine positive Sicht auf sich selbst.
8. Behalten Sie die Zukunft im Auge.
9. Erwarten Sie das Beste.
10. Sorgen Sie für sich selbst.Quelle / Buchempfehlung:
Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft
Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burn-out
dtv premium 2013, von Christina Berndt
Und ganz praktisch orientiert: Wo sind die Expertinnen und Experten in eigener Sache und gerade mittendrin? Wen könnte ich befragen? Wer ist professionell mit Krisen beschäftigt, hat Kontakt zu besonders emotional verletzlichen Gruppen, muss die Kraft aufbringen die Situation persönlich und beruflich zu bewältigen, hat über ein Jahr Erfahrungen gemacht, die es bisher so noch nicht gab?
Mein Team – und unser Arbeitsbereich
Das sind die Mitarbeiter*innen des Verbunds Betreutes Wohnen Mitte. 16 Kollegen*innen waren bereit, mir in einem Interview Fragen zu beantworten und darüber hinaus von ihren Erfahrungen innerhalb der letzten 12 Monate zu berichten.
Der Verbund Betreutes Wohnen Mitte ist einer von vier Verbünden innerhalb des Fachbereichs für Menschen mit psychischer Erkrankung im UNIONHILFSWERK. Unsere Hilfen sollen personenzentriert, individuell und teilhabegerecht ausgerichtet sein. Im Verbund Betreutes Wohnen Mitte können 72 Menschen von aktuell 26 Mitarbeiter*innen in multiprofessionellen Teams begleitet werden.
Die Herausforderungen während der Pandemie
Der politisch beschlossene Lockdown hat bei vielen Menschen persönliche Krisen ausgelöst. Einsamkeit, Beziehungsstress, soziale Isolation, Ängste, Verzweiflung bis hin zu Suizidgedanken treffen viele von uns. Die Situation ist für alle schwierig, doch die Folgen der Pandemie verteilen sich nicht gleichmäßig, sondern ungerecht. Insbesondere trifft es Menschen am Rande der Gesellschaft härter.
Die Zielsetzungen in der Begleitung, Menschen aus Isolation und Rückzug zu mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu motivieren, ist durch die notwendigen Hygiene- und Abstandsregeln zum Tabu geworden. In den Wohngemeinschaften entfallen so gut wie alle auf Gruppen ausgerichteten Angebote wie Ergotherapie, Gesprächsgruppen, Gruppenausflüge und Kulturveranstaltungen. Die Maskenpflicht erschwert die soziale Kommunikation. Blickkontakt, das freundliche Lächeln sind erschwert. Die Mimik fehlt, ebenso ein verbindlicher Händedruck zur Begrüßung und zum Abschied. Ein soziales Miteinander, welches für Menschen, die verletzlich sind, besonders wertvoll sind, ist eingeschränkt.
Ihr Arbeitsalltag meiner Kollegen und Kolleginnen hat sich verändert. Nicht nur in der Begleitung der Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Was früher zu vermeiden galt, ist heute überlebenswichtige Handlungsstrategie. Die Pandemie fordert auch im privaten Lebensbereich der einzelnen erheblichen Anpassungsstrategien. Die Kinderbetreuung, der Haushalt müssen organisiert werden. Das familiäre Miteinander wirkt unterstützend und mitunter herausfordernd zugleich. Die Angst vor eigener Erkrankung, Ansteckung und die Sorge um Freunde und Freundinnen, Familie fordert stark.
Das Team, als Ort der Unterstützung eine wichtige Ressource für das Ausbalancieren seelischer Belastungen, ist wenig bis kaum „körperlich“ präsent. Digitale Kommunikationssoftware ermöglicht Austausch, gemeinsam mit Messenger-Diensten, sind sie für die einen „ein Segen“, für andere „Fluch“ oder für manche „beides“. Ebenso die Option des Arbeitgebers, bürokratische Tätigkeiten im mobilen Arbeiten oder Homeoffice zu erledigen, mit den entsprechenden technischen und persönlichen Kenntnissen versteht sich. Neue Begriffe müssen erlernt und den Klienten und Klientinnen erklärt werden: Lockdown, AHA+C+L, Inzidenz, der 7-Tage-R-Wert …
Mitunter gilt es, Uneinsichtigkeit, Unkenntnis und alternative Meinungen zu integrieren oder einfach nur auszuhalten, im privaten oder beruflichen Umfeld gleichermaßen. All dies – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – prägte den Zeitraum, um den es sich rückblickend in meiner Befragung handelte.
Die Ergebnisse waren sehr verschieden
Am meisten vermisst wurden eindeutig die Kontakte, betont wurde der Verlust von Spontanität und körperlicher Nähe in den Begegnungen, das gemeinsame Feiern, die gewohnten Rituale an Geburtstagen, Jubiläen. Auch das Reisen fehlt als „Kraftquelle“ , ist es doch sonst hilfreich gegen „Alltagsfrust“, neben Essengehen mit mehreren Menschen, sich verwöhnen lassen und Sport in der Gruppe als „energetischem Ausgleich“. Über allem steht der Wunsch nach Spontanität anstatt Kontrolle.
Als hilfreiche Strategien nannten meine Mitarbeiter*innen hier als Fähigkeit das „Besinnen auf sich selbst“, man schreibt wieder „richtige Briefe und verschickt Pakete“ und nutzt online Angebote vermehrt, für gemeinsam-digitale Aktivitäten wie Yoga oder FaceTime Termine. Viele sahen in Meditation und Achtsamkeitstraining eine Hilfe, neben Tätigkeiten der Um-/ Gestaltung des eigenen Zu Hauses und viele Kochaktivitäten.
Diese Anpassung wirkt nicht „passiv“, sondern spornt an, neue Möglichkeiten zu entdecken. Zwei Kollegen*innen geben an, sich sogar weniger belastet zu fühlen. Die „Lizenz zum Chillen“ und der Rückzug wirken auf sie wie eine „Erlaubnis“ aus dem Hamsterrad mal auszusteigen. Zwei weitere Mitarbeiterinnen erlebten die Zeit auch als „besonders“, da sie neue Beziehungen eingegangen waren und „Kontaktbeschränkungen“ ohnehin zu dieser Lebensphase passen.
Eine Sache der Perspektive? Was die Kollegen*innen anderen raten und wovon sie dringend abraten:
Abgesehen von den eigenen Strategien, die die „therapeutisch geschulten Mitarbeiter*innen nicht 1:1 auf andere übertragen möchten, raten sie: „den Blick zu schärfen, auf das, was es noch gibt“ oder „verweisen darauf, was bis jetzt auch gut gelaufen ist oder noch möglich ist“.
Sie raten ab von „zu viel oder falschen Informationen“ und oder davon, sich in Katastrophenphantasien zu verlieren. Reduktion digitaler Medien, „einfach mal SEIN“ oder sich langweilen, Bewegung, Joggen, TV-Rituale wie der nachmittägliche Krimi zum Kaffee, werden empfohlen aber auch Humor und „nicht so viel Alkohol trinken“.
Kann man rückblickend auf das letzte Jahr auch positive Aspekte an der Krise finden? Nur zwei Personen verneinten die Frage, die meisten sahen Vorteile des Homeoffice, begleitend mit der eingeschränkten Nutzung des ÖPNV. Die Umwelt, bzw. „das Stadtleben Berlin“ wurde als ruhiger wahrgenommen. Allerdings auch die Umorientierung eigener Werte und Bedürfnisse, vor allem die Bedeutung von Beziehungen und Freundschaften wurden einigen in der Krise klarer.
Gibt es etwas Neues, was in dieser Zeit Platz im Leben bekommen hat?
In einem Fall wurde die Zeit dazu genutzt, eine berufliche Neuorientierung vorzubereiten, die „Freude an juristischer Fachliteratur“ wurde entdeckt, oder „die Akzeptanz für die Angst anderer Menschen“. Wir haben das „Aushalten von Durststrecken“ gelernt und auch ein „neues Bewusstsein für die eigene Gesundheit“. Die Anwendung der Maske als „Schutz“, erschien früher lächerlich – jetzt sinnvoll. Der Umgang mit Online-Medien wurde in diesem Jahr gelernt – das kann sogar zum Teambuliding beitragen.
Auf Herausforderungen und Veränderungen mit Anpassung des eigenen Verhaltens reagieren – das ist Resilienz. Die Fähigkeit haben, auch in schweren Situationen das Positive zu sehen und sich dennoch auf bessere Zeiten freuen. Am meisten freuen sich die Befragten auf spontane Ausdehnungen des Lebens- und Bewegungsradius.
Mich, Birgit Hoffmann, haben die Umgangsweisen mit der Krise und die Gedanken meiner Kolleg*innen beeindruckt. Durch die Befragung erfuhr ich von ihren persönlichen Erfahrungen, Werten und Motiven und möchte mich hier noch einmal für das geschenkte Vertrauen bedanken. So individuell wie die einzelnen mit der Situation umgehen, gibt es doch auch immer wieder Gemeinsamkeiten. Ein Patentrezept lässt sich für die Bewältigung daraus wohl nicht ableiten. Für mich lässt sich jedoch eine besondere Kraft erkennen, die Psychologen*innen als Resilienz bezeichnen: eine Fähigkeit aus einer deprimierenden Situation wieder ins volle Leben zurückzukehren; Widerstand zu leisten gegen die Zumutungen der Umwelt und den Blick optimistisch nach vorn zu richten und aus einer Selbstsicherheit heraus aus einem eingeschränkten Lebensraum das Beste rauszuholen.
Bei einer akuten psychischen Krise oder einem psychischen Notfall, der sofortige Hilfe erforderlich macht, können folgende Anlaufstellen weiterhelfen:
- Der Berliner Krisendienst ist ein Hilfe- und Beratungsangebot für Menschen in akuten Krisen. Er ist rund um die Uhr erreichbar und für Hilfesuchende kostenlos. An neun Standorten werden Hilfesuchende ohne Anmeldung persönlich oder am Telefon beraten – auf Wunsch anonym: https://www.berliner-krisendienst.de
- Der ärztliche Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigungen ist außerhalb der üblichen Praxissprechzeiten (zum Beispiel nachts, an Wochenenden und an Feiertagen) bundesweit erreichbar über die Rufnummer 116117. Weitere Informationen finden Sie unter: https://www.kbv.de/html/aerztlicher_bereitschaftsdienst.php.
- Als Sofortmaßnahme kann gegebenenfalls eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie aufgesucht werden. Adressen sind dem ärztlichen Bereitschaftsdienst bekannt.
- Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar unter folgenden Rufnummern: 08001110111 oder 08001110222. Darüber hinaus steht ein Beratungsangebot per Mail oder Chat zur Verfügung; Webseite: www.telefonseelsorge.de.
- Das Info-Telefon Depression steht kostenfrei unter der Rufnummer 08003344533 zur Verfügung; Sprechzeiten: Mo, Di, Do – 13.00 bis 17.00 Uhr; Mi und Fr – 08.30 bis 12.30 Uhr, Webseite: www.deutsche-depressionshilfe.de.
- Beim „SeeleFon für Flüchtlinge“ in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Arabisch können sich Geflüchtete – oder ihre Angehörigen – melden, wenn es um konkrete Möglichkeiten der gesundheitlichen psychologischen Versorgung in Deutschland geht – kultursensibel und möglichst in der Sprache der Betroffenen. Erreichbar montags, dienstags und mittwochs jeweils von 10:00 bis 12:00 Uhr sowie von 14:00 bis 15:00 Uhr, Tel.: 022871002425, Webseite: www.bapk.de/angebote/seelefon .
Im Fall einer akuten, potentiell sogar lebensbedrohlichen Notlage, beispielsweise bei akuter Suizidgefahr, sollte die Notrufnummer 112 für Feuerwehr und Rettungsdienst gewählt werden. Die 112 sollte auch angerufen werden, wenn die Situation unklar ist, aber lebensbedrohlich sein könnte.