8. November: Aufregung im Berliner Studio des Deutschlandfunks. Harald K., Redakteur, kenntnisreicher Fachmann für die DDR (stammt aus einer DDR-Promifamilie), sagt in der studiointernen Nachmittagskonferenz: „Das ist da drüben wie in einem Schnellkochtopf, der unter Überdruck steht, wenn den jemand öffnet kocht’s über.“ Wir beschließen einen internen Bereitschaftsdienst, ich übernehme die Frühsendung „Aus Ostberliner Zeitungen“.
9. November: Bin ab 4 Uhr im Funkhaus. Die Zeitungen aus dem Ostteil Berlins, die uns wie jeden Tag vorliegen, lassen keine Rückschlüsse auf dramatische Entwicklungen zu. Wir wissen, das SED-Politbüro tagt – für den späten Nachmittag ist eine Pressekonferenz angesagt. Kollegen berichten über auffallend viel Volkspolizei auf den Straßen. Redaktionskollege F. ist für die Pressekonferenz akkreditiert, ich bleibe im Funkhaus. Die Studiomitglieder hören die Nachrichten der Ost-Sender.
Um 18 Uhr verabschiede ich mich nach 14 Stunden und fahre heim; erinnere daran, dass ich am nächsten Morgen wieder die Frühsendung übernehme. Müde – aber unter einer besonderen Spannung.
19 Uhr: Meine Sekretärin Angela Voß ruft mich an: „Du musst sofort wieder ins Büro kommen. Schabowski hat nach der Politbürositzung den freien Reiseverkehr angekündigt – gültig ab sofort“. Ich dusche, ziehe mich frisch an und fahre gegen 21.30 Uhr erst einmal zum Übergang Heerstraße, dort stehen die West-Berliner Polizisten und sagen: Da stehen schon welche drüben und rufen: „Wir kommen!“
Ich fahre zum Funkhaus in der Masurenallee, wo das Berliner Studio des Deutschlandfunks seine Büros und Technik vom SFB hat. Auf dem Parkplatz vor dem alten Funkhaus sehe ich den Wagen des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper und seine zwei Begleitfahrzeuge der Sicherheitsbeamten stehen. Sie kennen mich – ich kenne sie – kurzes Gespräch – Momper ist beim SFB-Chefredakteur, wartet auf seinen Auftritt in einer Sondersendung. Als er mich sieht, schlägt er mit den Fäusten auf den Schreibtisch und sagt immer wieder: „Lutze, was sagst du nun?“
Kurzes Interview für unsere Abendsendung. Im Studio hektische Atmosphäre und kurze Absprache über die Produktion von Beiträgen in den nächsten Stunden. ARD-Sender aus allen Bundesländern rufen an: „Wir brauchen Informationen und Live-Beiträge, ihr seid doch DDR-Spezialisten.“ Wir produzieren, die Kollegen rufen an, berichten, überspielen vom Übertragungswagen Live-Eindrücke von den Sektoren-Übergängen.
22.30 Uhr: Ich fahre nach Haus und versuche zu schlafen.
3 Uhr: Aufstehen, Anziehen, Abfahrt – auf der Heerstraße Trabbis, in meinem Autoradio der Deutschlandfunk – Nachrichten mit kurzen Informationen – aber: Kein Beitrag, keine Sondersendung! Ich schalte auf den Bayerischen Rundfunk: Sondersendung – Live-Berichte von meinen Kollegen aus dem Studio.
3.30 Uhr: „Gott sei Dank, dass du kommst – der Kölner Dienstleiter lehnt eine Sondersendung nach den Nachrichten ab!“ Ich telefoniere mit dem Kölner Funkhaus, wo mir der nächtliche Dienstleister auf Kölsch sagt: „Ne dat wird nicht gemacht – Sondersendung nur, wenn der Bundespräsident stirbt!“ Ich werde überdeutlich und drohe mit nächtlichem Anruf beim Intendanten.
4 Uhr: Nachrichten des Deutschlandfunks mit anschließenden fünf aktuellen Minuten. Wir bereiten die Frühsendung vor, stehen, reden, glauben nicht, sind fassungslos, glücklich und ich sage: „Das ist ein Schokoladentag, den wir erleben.“
6 Uhr: Live auf Sendung, Kollege S. bringt zwei junge Männer in Monteuranzügen mit – aus Dessau! „Wir sind einfach in den Zug gestiegen.“
8 Uhr: Nun steht auch das Kölner Funkhaus unter Volldampf. Wir in Berlin bleiben live bis 17 Uhr auf Sendung. Reportagen, Interviews, Menschen, Prominente am Mikrofon. Angela bringt mir Brötchen, Kaffee – ich spüre die Zeit nicht mehr, denke: „Jetzt geschieht Geschichte.“ – ein Schokoladentag!
Sehr geehrter Herr Krieger,
ich habe in der Nähe von Dresden gewohnt und später in Großenhain Pädagogik studiert. Ihre Sendung war mir viele Jahre ein wichtiger Kompass bei der Meinungsbildung.
Herzliche Grüße Claus Hörrmann