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Mein 9. November 1989 – Wolfgang Stollorcz

Ich weiß noch, dass ich am Abend des 9. November 1989 eigentlich schon kurz davor war, zu Bett zu gehen und dementsprechend gekleidet war. Ich saß im Schlafzimmer meiner Eltern allein vor dem Radio und hörte wie Günter Schabowski seinen historischen Versprecher von sich gab. Im ersten Moment begriff ich die Tragweite seiner Worte noch nicht. Mein Vater war da etwas weitsichtiger. Er kam ins Zimmer und fragte sichtlich gerührt: „Na, wollen wir hin?“ Ich machte mich wieder „stadtfein“ und mein Vater und ich fuhren im Auto zur Bornholmer Straße.

Wir stellten unser Auto in einer Seitenstraße ab und gingen den letzten Weg zur Brücke zu Fuß. Schon bald kamen uns die ersten Ost-Berliner Bürger entgegen. Sie waren voller Freude, lachten und einige warfen ihre DDR-Münzen durch die Luft. Die ersten Trabbis kamen knatternd und stinkend durch das Spalier der, ihnen aufs Autodach klopfenden, Menschen gefahren.

Überall Lachen und Jubel. Ich sah sogar eine Frau, die sich im Nachthemd auf den Weg zur Grenze gemacht hatte.

Auf den Brückenbögen wurden unzählige brennende Kerzen aufgestellt. Einige Menschen saßen in luftiger Höhe auf der Stahlkonstruktion, über ihnen der leuchtende Vollmond. Doch mein Gehirn hatte diese historische Situation anscheinend immer noch nicht verarbeitet. Verhaftet im Denken, das ich zeitlebens hatte, schloss ich die Möglichkeit nicht aus, beim illegalen Übertritt in den Osten erschossen oder doch mindestens verhaftet werden zu können – obgleich sich um mich herum tausende Menschen befanden und mit ihnen nichts dergleichen geschah. Da plötzlich entdeckte ich meinen Vater wieder! Er stand auf Ostberliner Gebiet auf einem Sperrblock aus Beton.

Dabei wenn Geschichte passiert: Wolfgang Stollorcz steht in Baseball-Jacke auf dem rechten Brückenpfeiler der Bösebrücke mit einem Fotoapparat in der Hand. Foto: Andreas Schoelzel

Nun schaltete mein Gehirn um, und ich erkannte, dass mir in dieser Nacht keinerlei Gefahr drohte.

Nachdem wir die Szenerie längere Zeit genossen hatten, überlegten wir zunächst, den Heimweg anzutreten. Als wir aber im Auto saßen und um uns herum unzählige Trabbis fuhren, aus denen gejubelt wurde und deren Insassen sich von Auto zu Auto geöffnete Sektflaschen reichten, kam mir eine Idee und ich sagte zu meinem Vater:

„Wo würdest du in dieser Nacht zuerst hinwollen, wenn du aus dem Osten zum ersten Mal nach Westberlin kämest? Lass uns zum Ku‘damm fahren.“

Ich erinnere mich an einen BVG-Bus, der in der Menge an der Joachimsthaler Straße feststeckte. Er trug die Werbung einer bekannten Wodka-Marke und die Menschenmenge begann im Chor zu rufen: „Gorbi! Gorbi! Gorbi!“ Verbrüderungsszenen spielten sich ab und die Ostberliner standen staunend vor jedem leuchtenden Schaufenster.

Irgendwann in den Morgenstunden kamen wir schließlich nach Hause. Meine Mutter erwachte und wunderte sich nur über mein übernächtigtes Aussehen. Sie hatte diese historische Nacht einfach verschlafen und war etwas empört darüber, dass wir sie nicht geweckt hatten. Aber es ging alles so schnell, dass weder mein Vater noch ich daran dachten. In den ersten zwei Wochen hatte ich nach dem Erwachen sofort Kopfschmerzen, weil ich diese neue Situation einfach nicht fassen konnte.

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