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Mit einem Koffer voller Hoffnung: Das Unionhilfswerk bietet Jugendlichen aus der DDR ein neues Zuhause

Bis 1961 flüchtete etwa eine Million Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren aus der DDR. Das Unionhilfswerk bot einigen von ihnen ab 1954 in seinen Schülerwohnheimen nicht nur ein Zuhause und eine Perspektive, sondern auch einen Ersatz für die Familie, die sie zurücklassen mussten.

Neues Zuhause und neue Perspektiven: Bewohner des Geschwister-Scholl-Heims in der Rheinbabenallee, 1955/56

1950er Jahre: West-Berlin bot vielen Menschen aus der noch jungen DDR eine neue Chance, ihre Lebensziele zu verwirklichen. Vor allem nach der Schließung der innerdeutschen Grenze im Mai 1952 wurde Berlin zum Dreh- und Angelpunkt für Flüchtlinge aus der DDR. Bis zum Mauerbau im August 1961 war es noch möglich, sich recht frei zwischen den Sektorengrenzen der geteilten Stadt hin und her zu bewegen. Zwischen 1953 und 1961 flohen etwa zwei Millionen Menschen aus der DDR in die BRD – etwa die Hälfte war unter 25 Jahre.

„Am 16. August 1954 bestieg ich als Vierzehnjähriger, der gerade die 8. Klasse absolviert hatte, in meiner Vaterstadt Magdeburg den Zug in Richtung Potsdam […] Ausgestattet mit einem braunen Pappkoffer, bekleidet mit einem Konfirmationsanzug, kam ich also in West-Berlin an.“*

Freiheit statt Zwang: Gründe der Flucht

Die Beweggründe für die Ausreise waren vielfältig: Viele wollten dem Zwang entkommen, sich dem System und dem Herrschaftsanspruch der SED unterzuordnen, flohen vor Repressionen und Anwerbeversuchen der Stasi. Gerade bei jüngeren Menschen spielte der Wunsch, sich frei entfalten zu können eine große Rolle – vor allem im Bereich Bildung: In der DDR wurden nur 10 Prozent eines Jahrgangs nach der 8. Klasse zur Erweiterten Oberschule (EOS) zugelassen. Entscheidend hierfür war neben herausragenden Noten, dass sich die Schüler*innen – und auch ihre Eltern – systemkonform verhielten und engagierten. Jugendlichen, die Regimekritik übten oder nur wenig Begeisterung für das politische System zeigten, wurde häufig der Weg zum Abitur versperrt. Abiturienten indes standen häufig vor dem Problem, gegen ihre Interessen studieren zu müssen. Der Wirtschaftsplan gab vor, was gebraucht wurde: Natur- und Ingenieurwissenschaften hatten Vorrang.

Jugendliche aus der DDR im Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde im Juli 1961 (Bundesarchiv, B 145 Bild-P06030 via Wikimedia Commons)

Der Weg zum Wunschstudium

In Westberlin konnten die Schüler*innen aus der DDR eigens für sie eingerichtete „Ostklassen“ besuchen. Die Jugendlichen, die ihr Abitur in der DDR bereits erworben hatten, mussten in der Bundesrepublik eine Sonderprüfung ablegen, da ihr Schulabschluss in der Regel nicht anerkannt wurde. Ein einjähriger Kurs bereitete sie darauf vor. Nach erfolgreich bestandener Prüfung hatten sie die Chance, ihr Wunschfach zu studieren. Auch freie Träger boten finanzielle Förderung an, die sich speziell an Abiturient*innen und Student*innen aus der DDR richtete.

Ein neues Zuhause im Geschwister-Scholl-Heim

Am 1. Oktober 1954 eröffnete das Unionhilfswerk auf einem Villengrundstück in Schmargendorf ein das Geschwister-Scholl-Heim für Schüler aus der DDR. Die jungen Flüchtlinge konnten hier in Freiheit und Sicherheit leben, ihr Abitur absolvieren und ein Studium aufnehmen. Mitte Oktober 1954 eröffnete das Unionhilfswerk ein zweites Schülerwohnheim in Dahlem, Max-Habermann-Haus genannt. Von 1956 bis 1958 betrieb es noch ein drittes in Nikolassee.

„Für uns war gesorgt, wir hatten eine Bleibe, so dass unsere Eltern unbekümmert sein konnten.“

Eine sichere und vertraute Zufluchtstätte: Leben im Schülerheim

Im Geschwister-Scholl-Heim lebten im Durchschnitt 55 Jungen. Ein paar von ihnen waren Studenten, die Mehrheit Schüler. Die jüngsten Schüler hatten die 8. Klasse in der DDR absolviert und keinen Zugang zur Oberschule erhalten, die ältesten bereiteten sich auf die Anerkennungsprüfung für ihr Abitur vor. Bei den schulischen Aufgaben wurden sie von der Heimleitung und studentischen Aufsichtskräften, die ebenfalls im Heim wohnten, unterstützt. Der Alltag der Jugendlichen wurde von einem festen Zeitplan bestimmt. Die Aufsichtsstudenten hatten dafür zu sorgen, dass dieser und die Hausordnung eingehalten wurden. Untergebracht waren die Jugendlichen in Vier- und Sechs-Bett-Zimmern. Das Geschwister-Scholl-Heim hatte den Anspruch, ihnen Werte wie Sauberkeit und Pünktlichkeit zu vermitteln. Die Schüler wurden angehalten, jeden Tag ihre Zimmer zu säubern und auch bei sich selbst auf Hygiene zu achten. Ausschweifungen waren den Jugendlichen nicht gestattet, auch am Wochenende war die Nachtruhe einzuhalten. Alkoholkonsum war ihnen grundsätzlich untersagt.

„Sauberkeit und Zimmergestaltung wurden auch durch Wettbewerbe zwischen den einzelnen Stuben gefördert. Als Preise winkten dann Obst und Schokolade.“

Damenbesuch und Hungerstreik

Ganz ohne Konflikte ging es aber im Geschwister-Scholl-Heim dann doch nicht zu: 1957 schlug ein zweitägiger Hungerstreik der Schüler hohe Wellen. Die Schüler protestierten damit gegen die in ihren Augen nicht hinnehmbare Entlassung des studentischen Heimleiters wegen nächtlichen Damenbesuchs sowie gegen die Versetzung ihrer Heimmutter. Mit ihrer neuen Heimmutter zeigten sie sich überaus unzufrieden und forderten deren Absetzung. Sie wäre in ihren Augen „zu wenig mütterlich“, wurden die Schüler im Telegraf zitiert, der neben einigen anderen Zeitungen über den Protest berichtete. Der BILD-Zeitung war er gar einen Artikel auf der Titelseite wert. Der Senatsdirektor für Jugend sowie der Bezirksstadtrat für Jugend verhandelten mehrere Stunden mit den Schülern und schlugen ihnen einen Kompromiss vor: Die Heimmutter bleibt noch für 14 Tage und arbeitet ihre Nachfolgerin ein. Die Schüler lehnten ab: Sie forderten ihre sofortige Kündigung. Daraufhin wurde das Heim als erzieherische Maßnahme vorübergehend geschlossen, die Schüler wurden auf andere Heime verteilt.

Berlin-Besucher statt DDR-Flüchtlinge

Postkarte zeigt das Max-Habermann-Haus, dass 1962 vom Schülerwohnheim in ein Gästehaus für Berlin-Besucher umgewandelt wurde.

Von 1956 bis 1959 nahm die Zahl der Menschen, die in den Westen flüchteten, ab. Außerdem sank der Anteil der unter 18-Jährigen an der Gesamtzahl der Geflüchteten. Da diese nun den Großteil ihres Lebens in der DDR verbracht hatten und dort sozialisiert wurden, fällten sie eine Fluchtentscheidung wohl nicht mehr so leicht. 1957 wurde „Republikflucht“ mit dem Passänderungsgesetz unter Strafe gestellt, was das Wagnis zusätzlich erschwerte. Das Geschwister-Scholl-Heim wurde deshalb im Juni 1960 zum Gästeheim für Berlin-Besucher aus Westdeutschland und dem Ausland umfunktioniert. Für die verbliebenen Schüler bedeutete dies, in das Max-Habermann-Haus in Dahlem umzuziehen, das noch bis März 1962 geöffnet blieb und dann auch als Jugendgästehaus diente.

 

*Die Zitate stammen aus den Erinnerungen eines ehemaligen Bewohners des Geschwister-Scholl-Heims.

 

Im nächsten Blog-Artikel erfahren Sie, wie aus den Gästehauern zukunftsweisende Modelle auf dem Gebiet der Betreuung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen wurden.

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