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1972 als Behindertenheim gegründet – Besondere Wohnform Wilmersdorf wird 50 Jahre!

Von Fremdbestimmtheit zur Mitbestimmung. Im Gespräch mit Kolleg*innen aus der Einrichtung.

Die Stimmung auf der Jubiläumsfeier war ausgelassen und fröhlich.

Ende August feierte die Besondere Wohnform Wilmersdorf im Garten der Einrichtung ein tolles Jubiläumsfest. Bewohner*innen und deren Angehörige, aktive und ehemalige Kolleginnen und Kollegen aber auch Freund*innen und Förderer kamen zum 50. Geburtstag der traditionsreichen Einrichtung.

Auf dem Programm standen Ausflüge in die Geschichte des Hauses mit Film und Vortrag aber auch in einer kleinen Ausstellung, eine Performance des inklusiven Schwarzen Theaters zum Mitmachen, Musik und Tanz genauso wie Kulinarisches….

Was hat sich in den Jahren seit der Gründung als Behindertenheim 1972 ereignet? Was lässt sich hieraus stellvertretend für die Sozialbranche ablesen? Die Einrichtungsleitungen, Regina Treiling und Susanne Buchholz sowie Hanna Mauermann, Betreuerin und Projektleiterin des Schwarzen Theaters R 28 haben sich mit diesen Fragen beschäftigt:

Frage: 1972 zur Zeit seiner Gründung als sogenannte Wohnstätte für erwachsene Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen zählte diese Einrichtung des Unionhilfswerks bundesweit zu den ersten institutionellen Betreuungsangeboten. Was hat sich seither für die Bewohner*innen verändert?

Antwort: Das könnten natürlich am besten Bewohner*innen beantworten, die schon damals hier wohnten. Noch bis vor 5 Jahren lebte eine der Damen der ersten Stunde in unserer Einrichtung.  Sie erzählte uns noch davon und erlebte den Wandel der Paradigmen hautnah. Als sie einzog, wurde das Essen zentral vom eigens dafür angestellten Küchenpersonal zubereitet. Es gab feste, für alle Bewohner*innen verbindliche Tagesabläufe, um nur einige der Rahmenbedingungen zu nennen. Die Leitung verstand sich als „Hausmutter“ bzw. Hausvater. Sie wurden so genannt und agierten auch so, unerwünschtes Verhalten wurde mit dem Entzug von z. Bsp. Rauchwaren oder Zuwendung geahndet.

„Individuelle Lebensqualität“ ist heute nicht nur ein Schlagwort. Die Unterstützung und Assistenz ist individueller geworden, die Tagesabläufe sind flexibler und an den Bedarfen der Bewohner*innen orientiert. Die Gruppen entscheiden, was sie essen wollen und bereiten die Mahlzeiten mit Unterstützung der Mitarbeiter*innen zu. Die Möblierung der Zimmer erfolgt nach den Wünschen der Nutzer*innen, Taschengeld wird nicht mehr als „pädagogisches“ Druckmittel eingesetzt.

Frage: Was hat sich für die Mitarbeiter*innen geändert und was in der Gesellschaft?

Natürlich hat sich auch für die Mitarbeiter*innen sehr viel verändert. Während in den 70er Jahren Menschen mit Beeinträchtigungen „verwahrt“ wurden und den Klient*innen mit einer klar paternalistischen Haltung gegenübergetreten wurde, frei nach dem Motto: “…ich weiß besser, was gut für Dich ist“, haben – analog zum gesellschaftlichen Wandel – Begriffe wie Selbstbestimmung und Teilhabe inhaltlich Einzug in die Arbeit gehalten. Dies bedeutet im Alltag natürlich, dass Mitarbeiter*innen weniger die „Bestimmer“ im Leben der Klient*innen sind sondern die „Überzeuger“ werden und sein müssen. Menschen mit Beeinträchtigungen scheinen inzwischen in der Gesellschaft mehr Anerkennung zu erfahren. In den 70ern firmierte die heutige „Aktion Mensch“ noch als „Aktion Sorgenkind“. Damals gab es die wohl gut gemeinte Serie „Unser Walter“. Die Darstellung der Titelfigur, ein Kind/Jugendlicher mit Trisomie 21, zeigte kaum etwas von seiner  Persönlichkeit. Sie beschränkte sich auf die Darstellung der Probleme, die sich aus der Beeinträchtigung des „Titelhelden“ für die Familie ergaben. Heute gibt es u.a. Inklusionsklassen, Theatergruppen für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, barrierearme Internetseiten und Texte in Leichter Sprache

Frage: „Aber Lotti ist glücklich“ – so der Titel einer Reportage, die 1973 für das ZDF entstand. Unter anderem wurden der Alltag der Bewohner*innen dieses Hauses und die Einrichtungsleitung portraitiert. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums haben Sie mit einem Film unter dem Arbeitstitel „Lotti 2.0“ auf diese mittlerweile historische Quelle Bezug genommen. Was war Ihr Ansatz?

Antwort: Der Filmtitel lautet, „Von Fremdbestimmtheit zur Mitbestimmung“, 50 Jahre Wohnheim Wilmersdorf. (Den Film finden Sie unter dem Beitrag)

Wir wollten die Geschichte weitererzählen: „Aber Lotti ist glücklich“ zeigt das Leben von Menschen mit geistiger und psychischer Beeinträchtigung im West-Berlin der 70er Jahre. In der Bundesrepublik herrscht das Wirtschaftswunder, die Gräuel des 2. Weltkrieges werden zugedeckt und weitgehend ‘vergessen’. Die Vernichtung von geistig und psychisch Behinderten liegt ca. 28 Jahre zurück. Die Menschen (alle wurden der Zwangssterilisation unterworfen) leben weiter in den Anstalten, betreut von Menschen, deren Vorgänger*innen in die Vernichtung geschickt haben. In der BRD herrscht ‘Die bleierne Zeit.’

1972 beginnt in West-Berlin die Geschichte der Enthospitalisierung und ermöglicht Anstaltsbetroffenen erstmals in ihrem Erwachsenenleben Wohnen in einem bürgerlichen Umfeld. Die neuen Bewohner unterliegen in dieser Zeit dem Entmündigungsparagrafen (BGB, alte Fassung §1896) sind rechtlos wie Kinder und haben deshalb einen Vormund. Die Leitung besteht aus der Hausmutter und einem Hausvater. Die Frage einer Liebesbeziehung wird in dem Film thematisiert, aber von der Hausmutter dahingehend gelenkt, dies nicht als Störung in der Wohngemeinschaft zu zulassen.

In einer 1973 erhobenen Umfrage erklärten auf die direkte Frage “ob geistig behinderte Kinder früh sterben sollten” 20% mit Ja, 50% bedingt mit Ja.

Der aktuelle Film “Lotti 2.0” stellt die Frage, was hat sich seit 1973 verändert, es geht um das Sichtbarmachen eines Kapitels jüngerer deutscher Geschichte, die mit dem endgültigen Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes im März 2023 vorerst einen großen Schritt in die Zukunft festlegt. Die Geschichte der Liebenden beleuchtet die ambivalente Realität zweier, unter gesetzlicher Betreuung stehender Menschen. Erzählt wird über die gelebte Erfahrung einer Mutter, die die gesetzliche Betreuung ihrer Tochter abgegeben hat und nun deren Entwicklung im ‘Haupthaus’ des Wohnheims Wilmersdorf in der neuen Rolle betrachtet. Sie reflektiert dabei ihre Vorbehalte zu der Entscheidung ihrer Tochter.

Frage: Nach so viel Rückschau in die Vergangenheit – wie bewerten Sie die gegenwärtige Situation – angesichts von BTHG aber auch der demografischen Entwicklung und dem daraus resultierenden Fachkräftemangel?

Antwort: Ein Ziel des BTHG ist, dass Menschen mit Beeinträchtigungen so leben können  wie Menschen ohne Beeinträchtigungen. Die Unterstützung soll personenzentriert erfolgen, damit jeder Mensch selbst entscheiden kann, wie er oder sie leben, wohnen und arbeiten möchte. Von diesem hehren Ziel sind wir als Gesellschaft offensichtlich in der Umsetzung noch weit entfernt.

Der demographische Wandel ist ein uns durchgängig begleitendes Thema, Klient*innen werden älter und ihr Unterstützungsbedarf ändert sich. Viele langjährige Mitarbeiter*innen nähern sich dem Renteneintrittsalter und gleichzeitig gibt es einfach weniger junge Menschen, die einen Beruf im Gesundheits- und Sozialwesen ergreifen. Sicher liegt der Mangel an Fachkräften nicht nur daran, dass es immer weniger junge Menschen gibt, sondern auch daran, dass ein angehender Elektriker im ersten Lehrjahr ca. 750 € verdient während angehende Auszubildende der Heilerziehungspflege für ihre Fachschulausbildung schon mal 200 € pro Monat mitbringen müssen.

Frage: Zum Abschluss noch ein Blick in die Glaskugel – was sind Ihre Visionen für die Besondere Wohnform Wilmersdorf in 10 Jahren?

Antwort: In 10 Jahren ist die Homepage des Unternehmens ausschließlich in leichter Sprache verfasst und „schwierige Sprache“ kann dann optional aufgerufen werden.

Es gibt mehr Mitarbeiter*innen in der Ausbildung und Fachkräfte, weil das Unternehmen das Schulgeld bezahlt. Vielleicht gibt es dann auch schon die „Unionhilfswerk Schule für Sozialwesen“. Natürlich haben wir dann auch mehr Mitarbeiter*innen, weil diese dann bevorzugt behandelt werden dürften bei der Vergabe von Kitaplätzen in den Kitas des Unionhilfswerks.

Wenn es Ausfälle wegen Krankheit gibt, werden wir dann nur noch die Leasingfirma „Call a Hilfswerker“ anrufen müssen und erhalten Personal zu besonders günstigen Konditionen.

Alle technischen Möglichkeiten, Barrieren zu senken sind ausgeschöpft, so sind alle Bäder saniert und ohne Schwellen beim Einstieg in die Dusche. Sämtliche Türen im Haus sind mit Tür-Chip zum Öffnen, weil vielen Menschen mit Beeinträchtigung das Benutzen eines Schlüssels schwerfällt etc. Das Haupthaus ist energetisch saniert. Wir haben im Hof mindestens zwei Ladestationen für E-Autos wobei eine natürlich für unseren dann vorhandenen VW-Bulli-Elektro reserviert ist. In 10 Jahren haben wir bereits seit 9 Jahren ein Lasten-E-Bike.

Vielleicht haben wir dann auch eine angegliederte Trainingswohnung in der Nähe, um Klient*innen zu ermöglichen, Betreutes Einzelwohnen (BEW) auszuprobieren…

Egal, was auch die Zukunft bringt, wir werden bleiben, was wir sind, Wegbegleiter!

 

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