Was hat eine Frau erlebt, die 1916, im ersten Weltkrieg, auf die Welt kam, die den zweiten Weltkrieg miterlebte, zur Zeit des Mauerbaus und Mauerfalls in Berlin lebte? Und: wie schafft sie es, ein so hohes Alter zu erreichen und dabei noch immer so mobil und rege zu sein?
Fragen über Fragen an Hildegard Lehmann. Interessante und bewegende Antworten gibt die rüstige fröhliche Dame bei unserem Treffen in ihrer Charlottenburger Wohnung. Eine Begegnung, die gar nicht so einfach zustande kommt – in Hilde Lehmanns vollem Terminkalender gibt es kaum Lücken. Denn neben ihrer Mitgliedschaft im Bezirksverband Charlottenburg des Unionhilfswerk Landesverband Berlin e.V. ist sie in vielen anderen Bereichen aktiv. Sie geht unter anderem zu den „Zeitzeugen“, um vor allem jungen Menschen die Geschichte, persönlich erlebt, näher zu bringen. Regelmäßig nimmt sie an den Stadtrundgängen des Charlottenburger Bürgermeisters teil, seit 70 Jahren ist sie Mitglied in der Freien Volksbühne und fast genau so lange im SCC, dem Sport-Club Charlottenburg.
SCC, UHW… Klingt verdächtig!
Umtriebig war sie schon, als Berlin noch geteilt war. Und bei einem ihrer Besuche in Ost-Berlin kontrollierte ein Grenzsoldat ihren Kalender und entdeckte viele „verdächtige“ Abkürzungen. Es waren die abgekürzten Namen ihrer Mitgliedsvereine und Aktivitäten, wie SCC oder UHW. Der Soldat riet ihr, dieses „konspirative“ Büchlein beim nächsten Besuch lieber zuhause zu lassen.
Sport – ein wichtiger Teil in ihrem Leben.
Über 37 Jahre lang war sie im SCC aktiv. Sie engagierte sich als Übungsleiterin für Kinder, die im SCC Rollschuh und später Schlittschuh liefen. „Wenn die Frau sich dreht, hat sie einen Schirm um sich herum, “ staunten die Kinder damals fasziniert über den Faltenrock ihres Sportdresses im Stil der Zeit. Auch heute noch ist sie Mitglied im SCC, in der Eislaufabteilung und der Seniorensparte.
Auf die Frage, was sie so fit gehalten hat, gibt Sie eine klare Antwort: Sie hat nie geraucht, nie getrunken, der Vater sorgte dafür, dass Hilde und ihre Brüder sich viel bewegten. Die Kinder gingen während der kompletten Saison mit ihrer Dauerkarte regelmäßig ins Freibad. Zu Fuß war das für die Kinder ein sehr langer Weg, den sie laufen mussten. Die meisten Kinder von heute würden bei der Strecke streiken, damals gab es keine Alternative.
Hildes Vater sorgte nicht nur für Sport und viel Bewegung für seine Kinder, „mein Vater wollte mir zeigen, wie ein Schraubenzieher angewendet wird, meine Mutter meinte, das bräuchte ich als Mädchen nicht zu wissen,“ erinnert sich Hilde Lehmann an Situationen ihrer Kindheit. Der Vater hat für die Kinder im Garten Sandkasten, Schaukel und Reckstange gebaut, drinnen für seine Tochter ein Puppenhaus. „Mein Vater war Eisenbahner, wir Kinder hatten immer den Eindruck, dass er alles wusste, dabei kam er aus einem sehr kleinen Dorf bei Falkenberg/Elster. Aber er war immer interessiert und offen für Neues, da bin ich meinem Vater sehr ähnlich.“
Das behielt sie bei, als sie im Krieg als Mitarbeiterin der Generalverkehrsdirektion nach Warschau ging, um dort am Fernschreiber zu arbeiten. Im Laufe ihres langen Berufslebens arbeitete sie unter anderem auch als Näherin und später lange als Verkäuferin bei Wertheim.
„Lass Dir Deine Wünsche nicht ausreden“
Hilde Lehmanns Rat an die jungen Frauen von heute: „Mach das, worauf Du zuerst Lust hast und lass es Dir nicht ausreden.“ Für sie war dieses Motto aber auch damit verbunden, Verantwortung zu übernehmen – sei es für die Kinder, die sie als Übungsleiterin im SCC betreute oder natürlich vor allem auch für Ihre Tochter Sabine, die 1944, in einer schwierigen Zeit zur Welt kam. Sie vermittelte auch ihrem Kind die Neugierde am Leben und weckte das Interesse an der Welt. Als ihre Tochter noch sehr klein war, setzte sie sie einfach auf dem Rad in einen Korb und zeigte und erklärte ihr alles, was sie sahen.
Ernst, geradezu entsetzt ist Hilde Lehmann, wenn sie ihre Eindrücke von den jungen Eltern heute schildert, die sich mehr um ihre Smartphones kümmern, als um ihre kleinen Kinder. „Die Kinder bekommen überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr von ihren Eltern. Wie sollen sie ihre Umwelt kennenlernen?“
Tipp für das Alter – trotzdem machen – auch wenn man sich mal nicht so gut fühlt
Hört man Hilde Lehmann länger zu, so bekommt man nach und nach eine Idee davon, was sich hinter ihrem Geheimnis für ein überaus langes und erfülltes Leben verbirgt. So auch bei ihren Empfehlungen für das Alter, wenn sie resümiert, „in Bewegung bleiben und die Pläne trotzdem machen, auch wenn man sich mal nicht so gut fühlt und man denkt, dass es nicht geht. So war das auch früher bei mir, ich konnte nie krank sein – wer hätte dann die Kinder trainiert?“ … und so gilt es noch heute!
Auf Roll- oder Schlittschuhen – hauptsache in Bewegung. Hier auch mit Tochter Sabine.
Ich war auch ein „Rollschuhkind“ von Hildegard, lang, lang ist es her. Wir hatten uns lange aus den Augen verloren, haben aber seit über 20 Jahren wieder regelmäßig Kontakt gehabt. Wir haben uns mit einer Gruppe „Rollschuh-Veteranen“ mindestens zweimal im Jahr mit Hilde getroffen und auch ihren Geburtstag zusammen gefeiert. Durch Corona ging das in den beiden letzten Jahren leider nicht mehr. Die letzte gemeinsame Feier war zu ihrem 104. Geburtstag. Das hatte sie sehr genossen. Hildegard war immer stolz auf ihre „Rollschuhkinder“. Sie war eine bemerkenswerte Frau, wenn wir telefoniert haben, hatte sie immer viel zu erzählen und ich kam kaum zu Wort. Sie wird immer in meinem Herzen bleiben und ich vermisse sie sehr.