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Mein 9. November 1989 – Dr. Thomas Georgi

Am Abend dieses bis dahin unspektakulären Tages spielte ich mit meinem zweijährigen Sohn im Wohnzimmer und verfolgte nebenbei die Schabowski-Pressekonferenz im Fernsehen. Der letzte Punkt über die Reiseregelung elektrisierte mich jedoch. Was bedeutete dies? Die ersten Berichterstattungen waren ernüchternd. Aber dann eröffnete Hajo Friedrichs die Tagesthemen mit der Bemerkung, dass heute ein historischer Tag sei. Es folgte eine Live-Schaltung zum Grenzübergang Chausseestraße. Der Reporter erklärte, hier sei alles ruhig, aber ein neben ihm stehender Mann berichtete, er komme gerade vom Grenzübergang Bornholmer Straße und dort hätten bereits die ersten Ostberliner nur mit ihrem Personalausweis die Grenze passiert. Also doch!

Ich weckte meine Frau und sagte: „Die Mauer ist auf!“ – „Du spinnst doch!“ – Meine Frau beobachtete mich verschlafen, während ich mich anzog und noch einen Zwanzig-D-Mark-Schein aus dem Versteck holte.

„Ich fahre jetzt zum Ku‘damm!“ „Wirklich?“ „Ja!“ – „Warte, ich komm mit.“

Wir sagten der Nachbarin Bescheid und fuhren mit dem Trabbi Richtung Grenzübergang Bornholmer Straße. Vor einer Menschenmenge stand ein Funkwagen der Volkspolizei. Über Megaphon hieß es, dass es heute nicht möglich sei, uns die Ausreise zu gewähren. Man solle sich erst am Folgetag einen Visumsstempel abholen und dann wiederkommen. Niemand ging. Es ertönten Sprechchöre „Tor auf! Tor auf!“. Plötzlich war der Schlagbaum offen! Wir passierten unkontrolliert im Pulk die Grenzübergangstelle. Die Kontrolleure der Staatssicherheit standen etwas hilflos links und rechts Spalier.

Als wir dann auf der Bösebrücke den weißen Strich überquerten, sagte ich, nun doch mit etwas Tränen in den Augen: „Herzlich willkommen in West-Berlin, Frau Georgi, in der Freiheit!“

Auf der anderen Seite der Brücke empfingen uns jubelnde Westberliner. Mit Sekt in der Hand klopften sie uns auf die Schultern. Volksfeststimmung. Viele weinten vor Freude, andere umarmten sich. Da wir zum Ku‘damm wollten, sprach ich irgendwann ein Paar an. Es kam aus Reinickendorf und wollte nur mal schnell gucken. Aber von der Euphorie angesteckt, fuhren sie uns zum Ku‘damm und begleiteten uns sogar bei unserem Streifzug.

Als wir wieder zur Bornholmer Brücke kamen, kaufte ich in einer Tankstelle zum Beweis, dass wir wirklich im Westen waren, eine Morgenpost, zwei Tafeln Schokolade (eine für die Nachbarin und eine für unseren Sohn), eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Zu Hause legten wir uns noch einmal ins Bett – die Morgenpost auf dem Nachttisch. Wenn wir nachher aufwachen, dachte ich, dann wissen wir, es war kein Traum. Der Traum war Wirklichkeit geworden.

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