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“Menschen müssen unterstützt werden, ihre Wohnung zu halten.”

Seit Jahren werden sie immer mehr und immer sichtbarer: Menschen ohne oder ohne festen Wohnsitz. Der Senat schätzt ihre Zahl auf bis zu 50.000. Über dieses Problem und den Umgang damit habe ich mit Beate Jost gesprochen. Sie ist Fachbereichsleiterin im Unionhilfswerk für Familien-/Jugendhilfe und Wohnungslosen-/Flüchtlingshilfe.

Die Ursachen von Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind komplex. Nicht immer lassen sie sich beheben.

Liebe Frau Jost, EU, Bund und das Land Berlin haben das Ziel, bis 2030 Obdachlosigkeit zu überwinden. Wie realistisch ist das?

Gar nicht realistisch. Es wird immer Menschen geben, die keine eigenen vier Wände haben. Aber es ist trotzdem wichtig, daran zu arbeiten, sich diesem Ziel zu nähern.

 

Wir müssen also damit leben, dass Menschen auf der Straße schlafen oder in einer Unterkunft untergebracht sind. Sind die Maßnahmen ungeeignet?

In Berlin ist das Hilfesystem grundsätzlich gut. Es gibt eine große Zahl an vielfältigen Angeboten. Da wäre aber zum einen der Wohnungsmangel. Mehr als 130.000 Wohnungen fehlen in der Stadt. Demgegenüber stehen bis zu 50.000 Menschen, die in Notunterkünften und Wohnheimen, bei Freunden, Verwandten oder Bekannten unterkommen oder auf der Straße leben. Viele von ihnen sind durchaus (wieder) in der Lage, Verantwortung für sich und ihre Familie zu übernehmen. Aufgrund des Wohnungsmangels erfüllt sich der Wunsch nach den eigenen vier Wänden jedoch nur für wenige.

Zum anderen gibt es die Menschen, die es nicht oder nicht mehr ins Regelsystem schaffen, also keinen Wohnheimplatz bekommen und erst recht keine Wohnung – oder falls doch, diese nicht halten können. Hier spielen psychische Probleme eine Rolle, Schulden, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit etc. – Problemlagen, die sich häufig gegenseitig bedingen. Zudem fehlen oft Dokumente wie Geburtsurkunde, Ausweis oder Pass.

 

Welche Angebote gibt es für die Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben?

Am Tag können sie Angebote wie unsere Wohnungslosentagesstätte Schöneberg in Anspruch nehmen. Dort erhalten sie Speisen und Getränke für wenig Geld, können sich duschen und einkleiden. Zudem erhalten sie sozialpädagogische und psychosoziale Unterstützung, wenn sie es wünschen. Nachts können sie Notunterkünfte aufsuchen – in der Kältehilfesaison sowieso. In unserer Kältehilfe-Unterkunft in Charlottenburg bieten wir noch bis zum 30. April 150 Menschen einen Schlafplatz mit einer Grundversorgung an. Einige – meines Erachtens zu wenige – Notunterkünfte sind ganzjährig geöffnet. Ferner setzt der Senat seit 2018 den Ansatz „Housing First“, also „Zuerst ein Zuhause“, an einigen Standorten um. Die obdachlose Person oder Familie zieht ohne Bedingung ein. Ziel ist es, sie ins Regelsystem der Wohnungsnotfallhilfe zu überführen. Ähnlich verhält es sich mit den sogenannten Safe Places, den geschützten Orten.

 

Zum Beispiel in der Hertzbergstraße in Neukölln. Dort stehen sechs Wohnboxen. Angefertigt wurden sie von der Union Sozialer Einrichtungen gGmbH, die zum Unionhilfswerk-Verbund gehört. My Way leitet das Projekt und stellt die sozialpädagogische Begleitung sicher. Wie geht es mit dem Projekt weiter?

Dieser Safe Place war bis März gesichert. Da sich der Bezirk sehr dafür eingesetzt hat, gehe ich davon aus, dass das Projekt weitergehen wird. Die sechs Wohnboxen sind bereits angefertigt. Dafür fallen also keine Kosten mehr an und die laufenden Kosten – sozialpädagogische Arbeit und Miete für die Toilette – sind überschaubar.

 

Wie hilfreich sind Safe Places, um die Situation von Menschen ohne Obdach zu verbessern?

Safe Places, bspw. mit Wohnboxen, bieten Schutz und ein Mindestmaß an Privatsphäre. Das ist besser, als draußen allen Witterungsbedingungen ausgeliefert zu sein. Für die Menschen, die dort unterkommen, kann es eine Chance sein, ins Regelsystem zurückzukommen – insbesondere dann, wenn sie die Unterstützung der Sozialarbeiter*innen annehmen.

 

Sie haben vorhin die Wohnungslosentagesstätte Schöneberg erwähnt. Das Zuwendungsprojekt hat dieses Jahr weniger Geld erhalten. Was bedeutet das konkret und wie wollen Sie das Angebot sichern?

Unsere Wohnungslosentagesstätte hat ca. 20.000 Euro weniger zur Verfügung, als wir beantragt hatten. Am Angebot und Personal sparen können wir nicht. Daher hoffen wir auf Gelder aus anderen Töpfen. Außerdem werden wir uns stärker darauf konzentrieren, Spenden einzuwerben, durch außergewöhnliche, medienwirksamen Aktionen. Wir werden jedenfalls alles tun, unsere Wohnungslosentagesstätte zu halten.

 

Plant das Unionhilfswerk weitere Angebote für Menschen ohne eigenen Wohnraum?

Aktuell gibt es keine konkreten Planungen. Aufgrund des großen Bedarfs ist unser Träger daran interessiert, weitere Angebote zu schaffen. Um Menschen unterzubringen, braucht es jedoch Gebäude. Diesbezüglich sind wir gemeinsam mit unserem Facility-Management fortwährend auf der Suche. Sollten wir ein Gebäude auftun, werden wir auf das Land oder auf den betreffenden Bezirk zugehen.

 

Wir haben lange darüber gesprochen, wie obdach- und wohnungslosen Menschen geholfen werden kann. Ist es nicht besser, früher zu unterstützen, damit das Problem erst gar nicht entsteht?

Ja. Menschen müssen unterstützt werden, ihre Wohnung zu halten. Das Team unseres Projekts Wendepunkt Wohnen beispielsweise unterstützt nicht nur Menschen, die eine Wohnung suchen, sondern auch diejenigen, die eine Wohnung haben und denen der Verlust ihrer Wohnung droht. Das erfahrene und qualifizierte Team hilft bei finanziellen und behördlichen Angelegenheiten, der Schuldenregulierung, der Suche nach einer beruflichen Perspektive und beraten bei Konflikten mit dem*der Vermieter*in und dem Wohnumfeld. Dadurch konnten wir in vielen Fällen erreichen, dass Menschen ihre Wohnung behalten.

 

Zur letzten Frage: Wenn Sie sich etwas für wohnungs- und obdachlose Menschen wünschen könnten, was wäre das?

Auf jeden Fall sollten die von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen in ihrer Wohnung bleiben können. Auch die bürokratischen Hürden müssten gesenkt und die Handhabung in den Bezirken und sogar teilweise innerhalb eines Bezirks vereinheitlicht werden. Zudem wären passende Angebote für obdachlose Menschen mit psychischen Erkrankungen, die z.B. aus der Eingliederungshilfe herausfallen, wichtig. Diese Menschen sind bspw. in Unterkünften nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) nicht gut aufgehoben, da sie eine intensivere Betreuung benötigen. Aufgrund der geringen Personaldecke ist dies dort jedoch nicht zu leisten. Was ebenfalls dringend gebraucht wird, sind 24/7-Angebote besonders für junge Erwachsene. Diese Kriseneinrichtungen gibt es leider nicht mehr.

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