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Begegnung mit dem Milchtrinker vom Bahnhof Zoo – oder was Stadterkundungen in Berlin mit dem nächsten Winter zu tun haben können….

Ob mit dem BVG-Ticket im 100er Bus, ob auf dem Boot durch die Berliner Mitte oder per Fahrrad, Rikscha oder per Pedes – die Möglichkeiten, Berlin zu entdecken, sind vielfältig, bunt und manchmal sehr speziell. Insbesondere bei den Stadtführungen zu Fuß gibt es themenspezifische Entdeckungsreisen, die auch für gestandene Berliner noch Neues oder Spannendes zu Tage befördern. „Leben auf der Straße“, ein Thema des gemeinnützigen Stadttour-Anbieters querstadtein e.V. , macht neugierig: auf zur Führung in der „City West“ mit Dieter!

Dieter führt durch "sein Berlin".

Sonntagnachmittag, Treffpunkt Bahnhof Zoo: eine kleine, sehr gemischte Runde mit Neu- und Ur-Berlinern sowie Stadtbesuchern findet sich zusammen und schart sich um diesen überaus besonderen Guide – bereit für den „Ausflug“ mit ihm in eine Welt auf der Straße, seine ehemalige Welt. Diese Welt ist für die meisten von uns eher fremd – manchmal befremdlich. Bausteine aus persönlichen Begegnungen oder Erfahrungen erzeugen Klischees – decken sie sich mit der Realität?

Bahnhof Zoo – ein Ort, der für Obdachlose in diesem Teil der Stadt eine große Bedeutung hat. Einer der Gründe: die Berliner Stadtmission bietet hier seit vielen Jahren praktische Hilfe für obdachlose Menschen an. Diese Form der Unterstützung von Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen auf der Straße leben, ist vielen bekannt. Was für Obdachlose in der Gegend sonst noch wichtig und allgemein nicht geläufig ist, zeigt uns Dieter, als wir vom Haupteingang des Bahnhofs auf dessen Rückseite in die Jebenstraße gehen.

2012 wird Dieter hier von einer Gruppe Obdachloser aufgenommen, als er – wohnungslos geworden – aus einer thüringischen Kleinstadt nach Berlin kommt. Sie schlafen und leben zu acht auf der Bahnhofsrückseite über den warmen Lüftungsschächten der U-Bahn und schützen sich gegenseitig. Eine bunte Gruppe – vom ehemaligen Boxer aus Russland bis zu einer blutjungen Frau, die mit 21 Jahren schließlich an Cristal Meth zugrunde gehen wird. Mittlerweile sind alle bis auf Dieter und B. gestorben: Drogen, Kältetod, Alkohol – typische Todesursachen bei Menschen, die auf der Straße leben.

Unser Stadtführer zeigt uns Orte und Dinge, die im Alltag Obdachloser eine Rolle spielen. So natürlich auch die orangefarbenen Mülleimer der BSR, als wichtiger Lieferant von Pfandflaschen, einer wichtigen Einnahmequelle. Das Bild kennen alle: Menschen mit großen Tüten – mittlerweile nicht mehr ausschließlich Obdachlose – die in den Abfallbehältern nach Pfandgut suchen. Rechtlich eine spannende Grauzone, sagt Dieter und spricht einen Paragraphen an, der etwas mit der Unterschlagung von Fundsachen zu tun hat. In Berlin werde es geduldet, sagt er.

Nasse Kleidung? Kunst hilft  

Kunst im öffentlichen Raum kann durchaus auch mal von ganz praktischem Nutzen sein. Das erfahren wir an einer großen schwarzen Skulptur aus Polyester auf dem Platz vor dem Konzertsaal der Universität der Künste in der Hardenbergstraße/Ecke Fasanenstraße: Die „Schwarze Plastikskulptur“ des Künstlers Hans Nagel hat die positive Nebenwirkung, dass sie sich stark erwärmt, sobald die Sonne darauf scheint. Obdachlose nutzen sie daher sehr gern, um Wäsche darauf zu trocknen.

Eine zeitgemäß modernisierte Grünanlage und ihre Nebenwirkungen

Wir stehen in der neu gestalteten, modern und aufgeräumt wirkenden Grünanlage am Steinplatz vis á vis des Hauptgebäudes der Universität der Künste. Die Sanierung dieser Grünanlage hat leider Nebenwirkungen für die Obdachlosen, erklärt Dieter: Mit der Entfernung von Hecken und Bäumen wurde der Platz zwar lichter und freier, es verschwanden jedoch geschützte Plätze, die für Obdachlose zuvor als Schlafplätze dienten. Die Sitzflächen der neuen Bänke im modernen Design sind aus einem Material-Mix mit Beton. Im Gegensatz zu den bisherigen Klassikern aus purem Holz, die die Wärme speicherten, sind die todschicken Modelle sehr kalte Schlafplätze.

Den Kontrast dazu zeigt Dieter am Savignyplatz – ein „Luxusplatz“ zum Schlafen für Obdachlose: Seit Jahrzehnten unverändert, bieten die lauschigen Lauben rund um den Platz geschützte und im Sommer zugewachsene Schlafmöglichkeiten für Menschen ohne richtiges Dach über dem Kopf. In jeder der kleinen Lauben steht eine Bank, die, dank stabiler Rankgitter auf der Rückseite, einen soliden Schutz nach hinten bietet. Was für die obdachlosen Menschen auf der Suche nach sicheren Schlafplätzen immer wichtiger wird, damit sie besser vor nächtlich-üblen „Streichen“ geschützt sind. Immer wieder, so Dieter, kommt es vor, dass Scherzbolde Parkbänke, auf denen Obdachlose schlafen, von hinten umstoßen, sodass die wehrlosen Schläfer unter der schweren Bank begraben oder eingekeilt sind.

Der Weg auf die Straße…..

In der Grünanlage auf dem Savignyplatz erzählt Dieter mehr darüber, warum er auf der Straße landete. 2011 meldet seine Vermieterin Eigenbedarf für seine Wohnung an. Dabei wird ihm übel mitgespielt – noch vor Ablauf der Kündigungsfrist werden ihm Gas und Wasser abgestellt. Im strengen Winter 2011/12 bekommt er bei Temperaturen von bis zu -21°C eine beidseitige Lungenentzündung, verbunden mit einer Lungenembolie als Folge der starken Unterkühlung. Beim Jobcenter werden seine Angebote für neue Wohnungen aufgrund der Mietpreise oder Wohnungsgröße abgelehnt.

Er ist zu stolz, sich Hilfe in seinem Umfeld zu holen. Er macht sich zu Fuß auf den Weg an die westfranzösische Küste, landet aber mangels Orientierungssinn in Leipzig, von wo aus er per Mitfahrgelegenheit in einem Truck nach Berlin kommt.

„Hast Du vor, auf der Straße zu sterben?“

In Berlin landet er schließlich am Bahnhof  Zoo in der Jebenstraße, wo er in eine Gruppe Obdachloser aufgenommen wird. Eines Tages spricht ihn ein Polizist an: „Hast Du vor, auf der Straße zu sterben?“ Diese Frage rettet ihm vielleicht das Leben, resümiert Dieter, denn der Polizist nimmt ihn mit in die Stadtmission zu einem Sozialarbeiter. Gespräche folgen, der Sozialarbeiter vermittelt ihn in ein betreutes Einzelwohnprojekt. Zugleich arbeitet Dieter ehrenamtlich mit Obdachlosen – sehr engagiert. Vielleicht etwas zu engagiert, denn 2015 bricht er zusammen – er leidet unter starkem Bluthochdruck.

Seit März 2014 hat er eine Wohnung in Karlshorst und bietet seit Oktober 2014 auch die Stadtführungen für querstadtein an. Mittlerweile sind es mehrere Hundert Führungen, mit denen Dieter dazu beiträgt, mehr über den Alltag Obdachloser, aber auch die vielschichtigen Hintergründe für den Weg in diese Situation zu vermitteln. Wege, die leider oft wenig Hoffnung auf ein gutes Ende zulassen, wenngleich uns Dieter mit seiner Biografie eines besseren belehrt. Glücklicherweise!

Der Winter steht vor der Tür – Kältehilfe für Obdachlose in diesem Jahr nicht vom UNIONHILFSWERK

Die kalte Jahreszeit ist für obdachlose Menschen immer wieder eine extreme, nicht selten lebensbedrohliche Herausforderung. Aus diesem Grund gibt es in Berlin im Rahmen der Kältehilfe ab 1.11. bis zum 31.3. diverse Hilfeangebote für Menschen, die auf der Straße leben. Dazu zählen auch die kostenlosen Übernachtungsangebote im Winter, die von Sozialen Trägern im Auftrag des Landes Berlin bzw. der Bezirke umgesetzt werden. In den vergangenen beiden Jahren hat auch das UNIONHILFSWERK Übernachtungsplätze für Obdachlose angeboten. Für diese Wintersaison ist die Beteiligung des Trägers allerdings nicht vorgesehen, da der ermittelte Bedarf an Schlafplätzen bereits gedeckt ist, so die offizielle Auskunft.

Weitergehende Informationen zum Thema: https://www.kaeltehilfe-berlin.de/

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