Kindergärten als Bildungseinrichtungen
In den 60er und 70er Jahren werden in Westdeutschland und im Westteil Berlins Kindergärten massiv ausgebaut: 1965 haben 35 Prozent der berechtigten Kinder einen Betreuungsplatz. Ende der 80er Jahre sind es schon über 80 Prozent. Kindergärten haben sich als regelhafte Einrichtung etabliert, ihr Besuch wird zunehmend normal. Aus den einstigen Aufbewahrungsanstalten sind Erziehungs- und Bildungsinstitutionen geworden, die auf die Schule vorbereiten und Chancengleichheit für alle Kinder herstellen sollen. Die Vereinbarkeit von Kind und Beruf steht noch nicht im Vordergrund. Das Ziel ist es, Kinder aus benachteiligten sozialen Schichten zu fördern und so gleiche Chancen herzustellen.
Die erste Kita des Unionhilfswerks
1987 nahm in der Weddinger Wiesenstraße 25 die erste Kita des Unionhilfswerks ihre Tätigkeit auf. 80 Prozent der Kinder kamen aus Familien, die unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen lebten, 50 Prozent hatten einen Migrationshintergrund. Durch die Kooperation mit einer benachbarten Förderschule lag ein Schwerpunkt der Kita in der Integration und Förderung sprachauffälliger und hörgeschädigter Kinder. Zu dieser Zeit bestand ein noch sehr diffuses Feld der Integrationsansätze mit ausländischen und behinderten Kindern, erinnerte sich Ute Tiburczy, die erste Leiterin der Einrichtung. Erschwerend kam hinzu, dass die Kinderbetreuung für das Unionhilfswerk ein neues Tätigkeitsfeld darstellte: Die nötigen Verwaltungsstrukturen gab es noch nicht. Innerhalb weniger Wochen mussten Personal und Einrichtung für 60 Kinder bereitgestellt werden. Eine „Gratwanderung” war das, so Tiburcy, die schließlich mit sieben Erzieherinnen den Betrieb startete. Bald konnten Sprachheilpädagoginnen als feste Mitarbeiterinnen gewonnen werden. Die Organisationsabläufe spielten sich gut ein und das Team wuchs zusammen. So waren die Voraussetzungen für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit, bei der die Erziehung zur Selbständigkeit und die Entwicklung der Persönlichkeit im Vordergrund standen, geschaffen.
Modelleinrichtung in Kreuzberg
Bereits 1986 begannen die Planungen des Unionhilfswerks für die Übernahme einer neuen Kindertagesstätte in Kreuzberg. Hier war der Bedarf an Kindergärten, u. a. durch den Zuzug türkischer Familien, groß und der Platz für den Bau neuer Einrichtungen knapp. Bei der Kita handelte es sich um eine Modelleinrichtung: Sie wurde im Rahmen der 1987 in West-Berlin stattfindenden Internationalen Bauausstellung (IBA) eingerichtet – und zwar in einem Wohnhauskomplex auf dem Gelände einer ehemaligen Fabrik. Das war zu dieser Zeit etwas Besonderes. Die Fabrik wurde 1884 errichtet und 1933 zu Kleinstwohnungen umgebaut. Nun sollten familiengerechte Wohnungen und eine Kita gemeinsam in der Naunynstraße 69 Platz finden. Nach umfangreichen Umbauten war es im März 1989 soweit: Die Kreuzberger Kindertagesstätte wurde eröffnet.
Zweisprachigkeit als Kita-Konzept
„‚Wow, ist das eine schöne Einrichtung‘, habe ich gedacht, als ich zum ersten Mal da war. Ich war so überwältigt. Da war alles so warm und so familiär“, erinnert sich Anne Dörte Schweitzer, die im Herbst 1989 ihre Tätigkeit in der Kreuzberger Kita als Erzieherin aufnahm. Die Einrichtung war im Quergebäude des Baukomplexes auf zwei Etagen mit 650 Quadratmeter Fläche untergebracht. Ihre Räume waren großzügig und hell gestaltet, nur durch Sicherheitsglas voneinander getrennt. 700 Quadrameter Freifläche konnten ebenso von den Kindern genutzt werden. 80 Prozent von ihnen waren türkischer Herkunft. Um den Kindern gute Entwicklungschancen zu geben, sollten sie in der Kita türkisch sprechen können. In jeder Gruppe gab es deshalb eine türkischsprachige Erzieherin. Zweisprachigkeit sollte den Alltag der Einrichtung prägen. Langfristiges Ziel war daher, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen deutschen und türkischstämmigen Kindern herzustellen. Dieses wurde jedoch nicht erreicht: Viele deutsche Eltern zeigten sich begeistert von den lichtdurchfluteten Räumen und der angebotenen Vollwertkost, doch die hohe Zahl von Kindern türkischer Herkunft wirkte auf sie häufig abschreckend. Ein neues Konzept musste her.
Das Unionhilfswerk und die Montessori-Pädagogik
Mitte der 90er Jahre kam Anne Dörte Schweitzer, die die Kreuzberger Einrichtung seit 1995 leitete, erstmals mit der Montessori-Pädagogik in Berührung: Eine benachbarte Montessori-Grundschule suchte eine Partnerschaft zu einer Vorschuleinrichtung und stellte sich bei ihr vor. Schweitzer gefiel der pädagogische Ansatz und so entstand die Idee, die Kreuzberger Kita in ein Montessori-Kinderhaus umzuwandeln. Zunächst fiel diese jedoch nicht auf fruchtbaren Boden. Das erste Montessori-Kinderhaus betrieb das Unionhilfswerk schließlich nicht in Kreuzberg, sondern ab dem Jahr 2000 in der neu gegründeten Kita in der Zehlendorfer Lissabonallee 28. Die damalige Fachbereichsleiterin Ulrike Hinrichs, heute Geschäftsführerin zweier Gesellschaften der Unionhilfswerk, hatte das Konzept hierzu ausgearbeitet. Nachdem sich dieses bewährt hatte und die Kreuzberger Kita aufgrund geburtenschwacher Jahrgänge weniger Zulauf erhielt, wurde die Entscheidung gefällt, ab 2004 auch in der Naunynstraße nach der Montessori-Pädagogik zu arbeiten. Der Plan ging auf: Mit dem neuen pädagogischen Konzept konnte sich die Einrichtung vor Anmeldungen kaum retten. Nun besuchen Kinder vieler verschiedener Herkunftsländer und mit unterschiedlichem Bildungshintergrund die Kita.
Im nächsten Beitrag erfahren Sie, welche Auswirkungen die Krise des Ehrenamtes auf das Unionhilfswerk hatte und welche innovative Lösung dafür gefunden wurde.