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Fokus Rehabilitation – neue Wege für Menschen mit psychischen Erkrankungen

Vor der Psychiatrie-Enquête wurden Menschen mit Behinderung und Menschen mit psychischen Erkrankungen oft gemeinsam in Langzeitkrankenhäusern versorgt. Die Reformen bestimmten, dass sich das Angebot entsprechend der Bedürfnisse der Menschen auffächern sollte. So entstanden seit den 80er Jahren auch im Unionhilfswerk immer mehr Einrichtungen, die Menschen mit psychischen Erkrankungen auf ihren Wegen begleiten sollten.

Mehr Selbstständigkeit im Alltag und Stabilisierung durch Beschäftigung: Das sollten neue und ambulante Versorgungsangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen seit den 80ern ermöglichen

Übergangswohnheime für Menschen mit psychischen Erkrankungen

Das Übergangswohnheim in der Neuköllner Kirchgasse eröffnete 1987.

Im Zuge der Psychiatriereform gründeten sich in West-Berlin viele kleine Hilfsvereine. Eine bunte psychiatrische Szene entstand, in der viel Neues ausprobiert wurde. Auch das Unionhilfswerk schuf neue ambulante und teilstationäre Unterstützungsangebote. 1984 eröffnete es in der Kreuzberger Mariannenstraße sein erstes Übergangswohnheim für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Es war die zweite Einrichtung dieser Art in Berlin. Übergangswohnheime entstanden als Ergebnis der Psychiatrie-Enquête: Damit sollten Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken verkürzt werden, da es dort oft an emotionaler Zuwendung und sozialen Kontakten mangelte. Für die Bewohner sollte ein Übergang geschaffen werden zwischen dem Psychiatrieaufenthalt und einer ambulanten Versorgung. Mehr Selbstständigkeit, um den Alltag bewältigen zu können, war das Ziel.  Drei Jahre später, 1987, richtete das Unionhilfswerk ein weiteres Übergangswohnheim in Neukölln ein. Von Anfang dabei: Der Psychologe Norbert Prochnow. Prochnow hatte ab 1983 das erste Berliner Übergangswohnheim mit aufgebaut und die dort gesammelten Erfahrungen an das Unionhilfswerk weitergegeben. Nun richtete er mit Kollegen die ersten Wohngruppen und eine Werkstatt ein. Als Folgeeinrichtungen für die Wohnstätten und die Übergangswohnheime entstanden im Unionhilfswerk zwischen 1986 und 1989 drei Wohngemeinschaften und eine Betreuungsgemeinschaft, bei der Menschen mit psychischen Erkrankungen, die nur noch wenig Unterstützungsbedarf hatten, in von ihnen selbst angemieteten Räumen wohnten.

„Sie hatten regelmäßig sozialen Austausch, konnten sich über Gott und die Welt mit anderen unterhalten.”

Berufliche Rehabilitation

Wie können Menschen mit psychischen Erkrankungen wieder in Arbeit und Beruf zurückfinden? Diese Frage beschäftigte das Unionhilfswerk zunehmend. Denn: Arbeit und Beschäftigung bieten Chancen zur Stabilisierung und Entwicklung. Oft sind sie der erste Schritt zurück in die Mitte der Gesellschaft. Antworten zu finden und auch andere Träger in Berlin diesbezüglich zu beraten, war ab 1990 u. a. die Aufgabe Norbert Prochnows. Er und seine Kollegen nahmen Kontakt auf mit den Arbeitsämtern, den Eingliederungshilfen der Bezirksämter, mit Krankenhäusern und Tageskliniken. Sie vermittelten zwischen den Institutionen und brachten diese miteinander ins Gespräch. So entstand allmählich ein Netzwerk und es wurde sichtbar, welche Bausteine der Versorgung in Berlin noch fehlten und entwickelt werden mussten. In der Folge entstanden beim Unionhilfswerk bald weitere ambulante und teilstationäre Angebote. 1993 nahm beispielsweise das Psychiatrische Tageszentrum in der Neuköllner Briesestraße seine Arbeit auf. Hier wurden ca. 20 Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen in feste Tagesstrukturen eingebunden und erhielten eine Zuverdienstmöglichkeit. Zu ihren Transferleistungen konnten sie sich somit eine Art Taschengeld dazuverdienen und – besonders wichtig, so Prochnow, der ab 1992 die Fachbereiche für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen leitete: „Sie hatten regelmäßig sozialen Austausch, konnten sich über Gott und die Welt mit anderen unterhalten.”  Für viele war es auch eine Frage des eigenen Wertesystems, wenigstens ein paar Stunden wöchentlich zu arbeiten und so einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.

 

Neue Perspektiven für Menschen mit psychischen Erkrankungen: Die USE weitet ihr Angebot zur beruflichen Rehabilitation aus und eröffnet 1996 das Bistro „le COUSE“ im Wedding (Quelle: Nord-Berliner)

Von der THETA Wedding zur USE

Im Jahr 1995 machte das Unionhilfswerk im Bereich der beruflichen Rehabilitation einen bedeutenden Schritt vorwärts und wurde auch im Werkstattbereich für Behinderte tätig. Zusammen mit der AWO Steglitz gründete es die gemeinnützige Gesellschaft Union Sozialer Einrichtungen gGmbh (USE), um den durch Missmanagement insolvent gewordenen Theta Wedding e. V. zu übernehmen. Der Verein wurde Ende der 70er Jahre mit dem Ziel gegründet, Menschen mit psychischen Erkrankungen ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von psychiatrischen Kliniken zu ermöglichen. Dazu wurden zunächst eine therapeutische Tagesstätte (Theta) und geschützte Wohngruppen aufgebaut, später auch eine Werkstatt für behinderte Menschen. Norbert Prochnow nahm Anfang der 90er Jahre Kontakt zu dem Verein auf. Vielfältige Verbindungen entstanden: 1991 stellten das Unionhilfswerk und die Theta Wedding z. B. gemeinsam die „Cantina” auf die Beine, ein Gastronomieprojekt zur Schaffung von Arbeitsplätzen für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Ein Jahr später stieß der Psychologe Wolfgang Grasnick zur Theta Wedding. Zwischen ihm und Prochnow entwickelte sich eine „sehr gute inhaltliche Zusammenarbeit im Interesse psychisch kranker Menschen”. Nach Übernahme durch die USE wurde die Werkstatt für behinderte Menschen sukzessive wieder aufgebaut, vielfältige Arbeits-, Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung wurden geschaffen. Heute reicht die Palette von tagesstrukturierenden Angeboten bis hin zu begleiteten Arbeitsplätzen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Die angebotenen 30 Tätigkeitsfelder erstrecken sich von Catering über Tischlerei bis hin zur Tierhaltung.  “Es gibt noch viel zu tun”, so Wolfgang Grasnick, der bis 2020 einer der Geschäftsführer der USE war, „damit die Arbeit in den Werkstätten nicht mehr als Sonderwelt betrachtet wird.”

 

Für diesen Beitrag haben wir Interviews mit Norbert Prochnow und Wolfgang Grasnick geführt.

 

Im nächsten Beitrag erfahren Sie, wie das Unionhilfswerk zu seinen Angeboten für Senior*innen kam und was der Fall der Berliner Mauer damit zu tun hatte.

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