Insbesondere von Institutionen wissen wir nicht erst seit der Odenwaldschule, dass die hier herrschenden Hierarchien und strukturellen Machtverhältnisse sexualisierte Gewalt begünstigen.
Wir müssen uns also fragen: Ist so etwas auch bei uns möglich? Und wie können wir das verhindern? Wo sind unsere Risikofaktoren? Und welche Betreuungs- und Arbeitssettings sind besonders brisant im Hinblick auf Übergriffe?
Die in Fachkreisen gern zitierte Studie der Universität Bielefeld von 2011/2012 (eine aktuellere in dieser Größenordnung gibt es zurzeit nicht in Deutschland) hat gezeigt, dass Frauen mit Behinderungen noch sehr viel häufiger von sexualisierter Gewalt und anderen Gewaltformen betroffen sind, als Menschen ohne Behinderung (oB). So waren von 1561 Teilnehmerinnen der Studie 20-34% in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierten Übergriffen und 50-60% physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt (vgl. 10% Frauen oB und 36%). Im Erwachsenenalter waren 21-43% Opfer sexualisierter Gewalt und 58-75% physischer Gewalt (vgl. 13% und 35%). Männer wurden in dieser Studie nicht berücksichtigt, doch wir alle wissen aus unserem eigenen Arbeitskontext, dass auch viele unserer männlichen Klienten schwerwiegenden Übergriffe erleiden mussten.
Es geht also um Prävention und Schutz, wenn wir uns im UNIONHILFWERK der Auseinandersetzung mit diesem Thema stellen. Es geht auch darum, vorbereitet zu sein und mehr Sicherheit im Umgang damit zu finden. Und es braucht Mut, zu beginnen.
Tabus und Geheimnisse stehen ursächlich in Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt, denn erst die Sprachlosigkeit ermöglicht ihr Fortbestehen. Sprachlosigkeit wird durch hierarchische Strukturen gefördert, strukturelle Gewalt schafft einen idealen Nährboden für sexualisierte Gewalt. Daher müssen wir potentielle strukturelle Gewaltformen in unseren Arbeitsbereichen aufspüren, analysieren, eine offene Umgangsform damit finden. Wir müssen Risiken benennen, der Sprachlosigkeit mit System begegnen, Wege aus der Sprachlosigkeit finden und diese Wege vor allem aufzeigen, d.h. Konzepte erarbeiten, Fragen beantworten und Befürchtungen beruhigen. Was mache ich, wenn ich merke, dass irgendetwas nicht stimmt? Wie kann ich überhaupt meinem Gefühl trauen? Welche Konsequenzen hat es für mich und andere, wenn ich mich einmische? Was wird sich dann verändern? Vielleicht bin am Ende ich die Dumme, wenn ich Dinge anspreche, die ich selbst nicht so genau einzuschätzen vermag.
Quälende Gefühle der Scham bei den Opfern sexualisierter Gewalt
Menschen, die Gewalt und vor allem sexualisierte Gewalt ausüben, haben immer einen erheblichen Vorsprung. Sie haben selbst bereits die Strukturen, in denen sie sich bewegen und arbeiten, exakt analysiert und wissen die Beziehungsgeflechte innerhalb dieser Struktur zu nutzen. Sie erarbeiten sich ein System, das ihnen Zugriff ermöglicht. Sie haben sich ein genaues Bild gemacht von den Menschen in ihrem (Arbeits-) Umfeld, wissen, wer wie tickt. Häufig bauen sie Loyalitäten auf, schaffen Verbindungen und über Gefälligkeiten kleine Abhängigkeiten. Das muss nichts Verwerfliches sein, Verwerfliches könnte zu schnell auffallen. Daher geht es hier auch nicht um die Korrumpierbarkeit von einzelnen Kolleg*innen, sondern unter Umständen im Gegenteil um das Wohlwollen und die Harmoniebedürftigkeit ganzer Teams. Harmonie entsteht ja nicht nur durch Altruismus, sondern gern auch durch Abgrenzung nach außen, Zusammenhalt und „meine kleine Welt“ innerhalb meines Bereiches. Und einen weiteren ganz wesentlichen Vorteil wissen die Täter*innen sexualisierter Gewalt zu nutzen: unsere Scham. Scham ist eines der intensivsten und wirkungsvollsten Gefühle überhaupt. Und es ist eines der machtvollsten.
Über das Maß an Scham, das wir empfinden, sind wir manipulierbar. Je unangenehmer und peinlicher eine Sache für uns ist, desto schwerer fällt es uns, darüber zu sprechen. Es ist ein ganz natürlicher Vorgang; wir schützen uns lediglich. In der Fachliteratur ist bereits sehr viel bekannt über die oft lebenslang quälenden Gefühle der Scham, die Opfer sexualisierter Gewalt empfinden. Eine Scham, die sie meist in Verbindung mit Angst sprachlos gemacht hat. Aber auch wir sind diesem Gefühl ausgeliefert und es beeinflusst unser Handeln tagtäglich. Und damit sind wir wieder bei dem Thema Tabus und Geheimnisse. Welche Tabus gibt es bei uns? Welche unbequemen Fragen darf ich stellen und welche nicht?
Verabschieden von Glaubenssätzen
Wir müssen uns Fragen stellen wie: Was passiert eigentlich (mit uns) und wie können wir reagieren, wenn jemand von uns ein*e Täter*in wäre? Es geht darum, die Schwachstellen in unserem eigenen kleinen System zu identifizieren und uns von dem Glaubenssatz zu verabschieden: Bei uns gibt es sowas nicht! Und wenn, würde ich es doch merken.
Solche Glaubenssätze können oberflächlich beruhigen, aber sie dienen lediglich den Täter*innen. Die Realität beweist uns etwas Anderes, denn in der Regel merken wir es nicht oder erst sehr spät. Wir sind meist gefangen im System unserer eigenen Bedürfnisse, und das in allerbester Absicht. Wer möchte nicht einen Arbeitsplatz mit netten Kolleg*innen und im Bestfall einer entspannten und gleichwohl effektiven Arbeitsatmosphäre? Und wenn diese Atmosphäre anfängt zu brodeln oder gar brennt, dann doch bitte nicht aufgrund dieses Themas, das einem so nah kommt und so viel Gewesenes infrage stellt.
Es fällt uns inzwischen nicht mehr so schwer, Übergriffe von Klient*innen zu besprechen und Maßnahmen zu ergreifen, auch wenn adäquate Lösungen manchmal nicht leicht zu finden sind. Wir haben leider schon etliche Erfahrungen damit gemacht. Wenn uns jedoch sexuelle Übergriffe durch Kolleg*innen begegnet, erschüttert es uns und das gesamte Team in seinen Grundfesten. Eine Flut von Fragen taucht auf und der plötzliche Vertrauensverlust führt zu einer umfassenden Orientierungslosigkeit. Auch hierbei spielt die Scham wieder eine sehr große Rolle. Hätte ich etwas merken müssen? Habe ich vielleicht sogar etwas komisch gefunden und nicht reagiert? Trage ich dadurch eine Mitschuld? Und vieles, vieles mehr…
Oft werden diese Gefühle des Entsetzens, der Scham und Schuld auch kollektiv abgewehrt und es finden nicht selten Ausgrenzungsversuche statt. Nicht unbedingt wird dabei der/die verdächtigte Kolleg*in ausgegrenzt, sondern manchmal sind es auch diejenigen, die das Thema ansprechen oder die Betroffenen selbst.
Wir brauchen Worte und müssen gemeinsam hingucken
„Der Überbringer der schlechten Nachricht wird geköpft.“ Das war vor 2000 Jahren so und scheint auch heute noch ganz archaisch in unserem Gesellschaftswesen verankert zu sein. Wir Menschen sind immer auf der Suche nach Verbundenheit und das ist ja durchaus auch etwas Schönes und Bereicherndes und sichert letztlich unser (Über-) Leben. Es geht also nicht darum, Verbindungen zu kappen, sondern im Gegenteil diesen Verbindungen durch Worte mehr Verbindlichkeit zu geben. Wir brauchen Worte, damit wir nicht so manipulierbar sind. Wir brauchen Worte, damit wir nicht so ausgeliefert sind. Wir brauchen Worte, damit unsere Scham nicht dazu führt, dass es Raum für sexuelle Übergriffe gibt. Wir müssen hingucken und dieses Hingucken müssen wir erst noch lernen. Und das ist wirklich keine leichte Aufgabe.
Fachtag „Nein heißt Nein“ des Fachbereiches für Menschen mit Behinderung
Unser Fachtag „Nein heißt Nein“ im November ist erst der Anfang. Er ist der Paukenschlag, der unsere kollektive Aufmerksamkeit auf dieses eine ausgesprochen wichtige Thema lenkt, uns fokussiert und die Einführung unseres Sexualpädagogischen Konzepts untermauert.
Die Entwicklung dieses sexualpädagogischen Konzepts wurde vor einigen Jahren von den Leitungen des Fachbereiches für Menschen mit Behinderungen ins Leben gerufen. Es stellt die Grundlage unseres Handels dar und ist zugleich ein Statement gegen sexualisierte Gewalt und andere Gewaltformen in unseren Einrichtungen. Es beinhaltet zudem Leitfäden und Orientierungshilfen für den Umgang mit Situationen, in denen wir ungeübt und die emotional aufgeladen sind. Und es sind Worte. Viele Worte, die uns vielleicht an manchen Stellen fehlen und die nun mit Leben gefüllt werden müssen…von jedem einzelnen Mitarbeitenden und auf allen Ebenen, angefangen bei unseren Klient*innen bis hinauf in die Geschäftsführung. Während es bei der Klientel über Wege der Information, Aufklärung und Schulung um Empowerment und die Stärkung von Mitbestimmungsrechten geht, müssen wir uns als Kolleg*innen auch mit der Frage auseinandersetzen, welche Strukturen bei uns ein Klima von Offenheit und Transparenz einschränken. Das Thema ist hochbrisant und komplex. Es ist auch unbequem und vielleicht führt es dazu, dass unsere kleine Welt, in der wir uns bewegen, nicht ganz so bleiben wird, wie sie war und ist. Aber wenn wir nur einen Bruchteil der Energie, die wir dafür nutzen, wegzuschauen, in die andere Richtung lenken und hinschauen, wird sehr viel Positives frei. Davon bin ich zutiefst überzeugt.
Es braucht Information und Aufklärung
Vor ein paar Wochen stellte mir eine Klientin, die sich als Expertin in Leichter Sprache mit der Übersetzung unseres sexualpädagogischen Konzepts beschäftigt, die Frage: „Könnt ihr nur Gewalt oder auch Aufklärung? Ich weiß nämlich manchmal nicht, ob das richtig ist, was mein Freund von mir will. Und er sagt dann, das machen alle so.“ Diese Klientin hat mit ihrer klugen Frage genau den Kern des Problems erfasst. Denn um mit sexualisierter (oder in Leichter Sprache sexueller) Gewalt umgehen zu können, braucht es zunächst einmal ganz viel Information und Aufklärung. Und das wiederum auf allen Ebenen. Damit meine Grenzen nicht überschritten werden, muss ich wissen, wo sie liegen und ich muss den Mut haben, sie zu benennen. Das sexualpädagogische Konzept beschreibt diese Grenzen allgemeingültig (für den Fachbereich 600) auf der Metaebene. Nun müssen wir uns auf die Suche nach der individuellen Ebene machen. Auf Klientel-Ebene wird das bereits von unseren Frauen- und Männerbeauftragten unterstützt, die seit Anfang 2018 in der internen Beratungsstelle FROZEN ehrenamtlich tätig sind. Denn wer viel weiß, kann sich und andere besser schützen.
Strukturelle Machtverhältnisse und strukturelle Gewalt
Was meinen eigentlich die Begriffe strukturelle Machtverhältnisse und strukturelle Gewalt, von denen hier so häufig die Rede ist? Es geht darum, unsere Beziehungsstrukturen zu beleuchten. Gemeint sind vor allem auch positive Beziehungen, freundschaftliche Verknüpfungen und Verflechtungen aller Art. Das UNIONHILFSWERK hat vor allem in den letzten Jahren viel dafür getan, das Gemeinschaftsgefühl innerhalb des gesamten Trägers zu stärken. „Wir sind eine große Familie“, ein Gefühl von Verbindung und Verbindlichkeit, das uns zusammenhält und die Identifikation mit unserer täglichen Arbeit unterfüttert. Und das ist ja auch wirklich ein schöner Ansatz, denn wir wollen alle gern zur Arbeit gehen, uns sicher fühlen und ein positives Miteinander gestalten. Und tatsächlich gibt es viele enge Beziehungen bei uns. Es gibt Freundschaften, Liebesbeziehungen und Ehen, es gibt sogar die zweite Generation (oder auch die dritte?), die schon bei uns tätig ist. Bei all dem Schönen und Stärkenden, dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass enge persönliche Verflechtungen auch den idealen Nährboden für Misstrauen darstellen, denn es bilden sich Koalitionen, die über das normale kollegiale Maß hinausgehen. Wie klar bleibt mein Blick angesichts des Freundes oder der Tochter im Team? Wem kann ich mich anvertrauen, wenn ich ein Problem mit dem (Ehe-) Partner/der (Ehe-) Partnerin in meinem Team habe? Wie verhalten sich die Mitarbeiter*innen, wenn Leitungen in diese Verbindungen involviert sind?
Es geht nicht darum, Verbindungen zu kappen, nicht mal darum, sie zu verändern. Aber es geht darum, einen offenen und klaren Umgang damit zu finden, alternative (Gesprächs-) Angebote zu installieren, damit diese Konstellationen und ggf. Tabus nicht das Vertrauen zerstören und dazu führen, dass uns die wirklich wichtigen Themen verborgen bleiben.
Der Fachereich für Menschen mit Behinderungen fängt also schon mal an. Mit dem Hingucken…langsam, vielleicht blinzelnd und hoffentlich beständig. Die spannendste Frage ist jedoch noch offen: Wer im UNIONHILFSWERK folgt uns?
Vielen Dank für die Kommentare zu diesen beiden Fachtagen. Es ist richtig, dass diese Tage mit Themen sehr „vollgestopft“ waren. Wir werden uns bemühen, dies in zukünftigen Veranstaltungen zu berücksichtigen. Für die Mitarbeiter*innen des Fachbereiches Behindertenhilfe war die flächendeckende Teilnahme gewünscht. Allerdings hatten wir auch eine hohe Quote an externen Teilnehmer*innen. Ich bin auch davon überzeugt, dass Mitarbeiter*innen, die von diesem Thema – aus welchen Gründen auch immer – getriggert werden, sich diesen Fachtagen entzogen haben. Dies ist auch absolut in Ordnung. Dass wir Frauen- und Männerbeauftragte haben, ist für den Betreuungsbereich der Behindertenhilfe (noch) nicht vorgesehen und auch (noch) nicht gefordert. Wir haben uns trotzdem dazu entschieden und sind sehr froh, dass wir entsprechende Personen finden konnten. Eine Refinanzierung erfolgt leider in keiner Weise. Trotzdem wollen wir diese Arbeit entsprechend honorieren. Das Ziel war, alle Mitarbeiter*innen für das Thema zu sensibilisieren und eine offenes Ohr und ein waches Auge zu haben. Ich hoffe, dass uns dies gelungen ist.
Ich möchte mich für den sehr interessanten und lehrreichen Fachtag bedanken. Sicher wurden konkrete Handlungsschritte hier nur am Rande besprochen. Der Fachtag war aber eine sehr gute und umfassende Einführung zum Thema sexualisierte Gewalt in Einrichtungen.
Ich habe den Fachtag am Donnerstag besucht und muss sagen, dass einige der Kritikpunkte bereits aufgenommen wurden. Ich fand es eine gelungene Veranstaltung, leider hat die Zeit nicht für alles gereicht. Vielleicht hätte man nach dem Motto „Weniger ist mehr“ das Programm etwas abspecken können.
Hallo Unionhilfswerk,
ich muss sagen, dass ich den Fachtag enttäuschend fand. Mir ist nicht klar geworden, was das Ziel ist und wie konkret die Umsetzung dessen aussehen soll.
Besonders geärgert hat mich, dass eher im Nebensatz erwähnt wurde, dass die Veranstaltung triggern könnte und das Betroffene daher die Tagung verlassen sollten. Wenn man den Zahlen glaubt(Meiner Meinung nach liegt die Dunkelziffer solcher Personen extrem viel höher), hätte demzufolge in jeder zweiten Reihe des Tagungssaales ein Opfer und logischerweise auch ein Täter gesessen. Ich frage mich, wie das Unionhilfswerk eine „Verletzung“ betroffener Mitarbeiter/innen, bei denen dies etwas auslösen könnte abfangen wollte?
In meinem Arbeitsbereich habe ich leider die Erfahrung machen müssen, dass das Thema sexualisierte Gewalt durch Leitung und Bezirksamt ignoriert wurde.
Immer wieder wurde von Dozenten und anderen gelobt, dass die Tagung so zahlreich besucht wurde. Diese hatten offenbar keine Kenntnis davon, dass es für die Belegschaft eine Pflichtveranstaltung war.
Etwas peinlich empfinde ich, dass die Frauen- und Männerbeauftragten ehrenamtlich arbeiten und dafür kein Honorar bekommen. Dafür Hut ab Kollegen. Schön das es euch gibt.
Im Großen und Ganzen stimmt die Richtung. Aber bitte etwas mehr Sensibilität und weniger heiße Luft.
Entschuldigt bitte Rechtschreibe- und Grammatikfehler. Nobody is perfect.
Jürgen Krause (WG Betreuer)
Hallo Herr Krause,
vielen Dank für Ihr konstruktives Feedback – das geben wir gern an die Verantwortlichen weiter.
Viele Grüße
Irena Welslau aus der Unternehmenskommunikation
Ich finde es spannend wie unterschiedlich man dies empfinden kann.
Die Kritik kann ich an einer Stelle nachempfinden. Ich finde auch, dass eine solche Tätigkeit honoriert werden sollte. Sie sollte durch Entgelt/Lohn anerkannt werden, auch um zu verdeutlichen, dass sie wichtig ist.